Künstliche Intelligenz in antiken Ruinen

Aus einem Gespräch zwischen Emma Stern und Lothar Hempel in Berlin, Anfang März 2022.

Emma Stern: Als ich mir euer Album „Songs for the Blind“ angehört habe, kam mir plötzlich die Idee, dass die Aufnahmen auf einer mysteriösen Insel entstanden sein könnten. So als wäre das Ganze eine Art Flaschenpost, die von Leuten abgeschickt worden ist, die vor Jahren abgehauen sind, verloren, verschwunden, verschollen waren, aber jetzt musikalische Nachrichten an die Außenwelt schicken. Ich habe mir auch vorgestellt, daß sich in eurer Musik eine sehr starkes Erlebnis ausdrückt. Vielleicht ist etwas Aussergewöhnliches passiert und es ist eine tiefe Erfahrung gemacht worden? Ich spürte die Präsenz von Gefühlen, die zugleich weltfremd, weit weg und doch dringlich sind. Da ist etwas, das will was von mir, das verlangt was, das klopft an meine Tür. Eure Musik ist ja das Gegenteil von cool. Ich hatte dauernd den Eindruck, als solle alle Distanz zu mir als Hörer aufgehoben werden, zum Beispiel durch die Melodien, die so etwas sehnsüchtiges, fast schon hysterisches haben. Als würde ich eingefangen werden, mitten hinein gezogen in eine andere Welt, ob ich will oder nicht. Man könnte auch von überfallartiger Intimität sprechen. Was sagst du dazu, Lothar?

Lothar Hempel: Emma, du kennst mich schon so lange. Du weißt, daß ich leider nie strategisch denke, nicht wirklich plane, das ich das auch gar nicht kann, sondern daß mir die Dinge meistens einfach geschehen. Das „es“ passiert und daß meine Kraft vor allen darin liegt, „es“ zuzulassen. Erst wenn der Prozess abgeschlossen ist, sieht man sich das Ergebnis an und erkennt gewisse Formen und Strukturen. Das überrascht mich jedes Mal, daß das dann im Rückblick so absichtsvoll aussieht. Genauso war es auch mit dieser Platte. Diese Musik ist leider nicht auf einer einsamen Insel entstanden, wir träumten zwar eine Zeitlang tatsächlich davon, aber wir haben uns während der Aufnahmen in so eine ähnliche Vorstellung hinein gesteigert, nämlich daß es kein Vorher und kein Nachher gäbe, kein Horizont, kein Ufer, so als wäre die Zeit aufgehoben und es gäbe tatsächlich nur diesen Moment „Jetzt“ in dem unsere Musik erklingen kann. Dieser Resonanzraum, der da entstanden ist, das ist etwas, dass eine unglaubliche Weite hat und doch ganz nah und konkret ist. Wenn man das jetzt aus der Musik heraushört und spüren kann, dann ist es gut! Und dann gab es noch etwas, das uns fast zum Mantra geworden ist. Wir haben uns immer wieder gesagt, wir wollen ganz ehrlich sein. Ehrlich! Was immer das auch wirklich bedeutet. Aber es hat etwas bewirkt.

Emma Stern: Ich höre sie jetzt schon, die Stimmen und Vorwürfe mit denen man auf eure Musik reagieren wird. Eskapismus, Nostalgie, etcetera... darüber kann man reden, aber mich interessiert das überhaupt nicht. Was ich nämlich ergreifend und viel wichtiger finde, das ist, daß ihr mit euer Musik ganz alleine dasteht. Ich habe nachgedacht, aber mir ist niemand eingefallen, der auch nur annähernd so etwas Ähnliches wie ihr macht. Das hat etwas Tragisches, diese Einsamkeit, aber auch etwas Heroisches. Und dann singt ihr auch noch in deutsch!

Lothar Hempel: Aber mit französischem Akzent! Ich finde ja, das gibt den Texten noch einmal eine besondere Kraft, auch eine andere Bedeutung, daß sie von einer Französin gesungen werden. Auch das ist etwas, dass natürlich so nicht geplant war. Nur dadurch, daß Alexandra Matloka und ich uns zufällig begegnet sind und weil sie eine Französin in Berlin ist, konnte ich überhaupt erst solche deutschen Texte für sie schreiben. Und weil sie aus der Opernwelt kommt, haben sich erst Möglichkeiten aufgetan und Türen geöffnet und es konnte eine Musik entstehen, die ich mir vorher gar nicht vorstellen konnte. Und weil ich aus der Kunstwelt komme und meine eigenen Ideen habe, kann Alexandra so singen wie sie singt, und so weiter! Wir waren uns also gegenseitig Ursache und Wirkung. Ob das alles so einzigartig ist, kann ich nicht beurteilen. ich glaube eigentlich auch nicht, daß das eine Qualität an sich ist. Wir haben einfach versucht nur aus uns selbst zu schöpfen und alles, was wir kannten und wussten, hinter uns zu lassen. Wir haben uns vollkommen der Illusion hingegeben, man könnte noch mal ganz von vorne anfangen.

Emma Stern: Beim Hören der einzelnen Stücke bleibt im Endeffekt nur ein Vergleich bestehen, nämlich der zur Filmmusik. Eure Musik, vor allen die instrumentalen Songs, haben eine seltsame, suggestive Kraft, die in einem innere Bilder hervorrufen kann. Wäre die Formulierung nicht schon allzu strapaziert, könnte man sagen, ihr macht Musik für fiktive Filme. Ein schönes Paradox: eure Musik hat etwas Visuelles! Und noch etwas, das mir aufgefallen ist: Die meisten Instrumente, die man auf der Platte hört, sind ja elektronisch, synthetisch, simulativ. Aber ihr versucht daraus ein natürliches Klangbild zu rekonstruieren. Da gibt es scheinbar Hirtenflöten, archaische Trommeln und akustische Gitarren. Das ist wie die Umkehrung eine Entwicklung in der Elektronik, in der es ja seit langem eigentlich darum geht, das Digitale selbst hörbar zu machen. Ihr aber macht auf eine komische Art und Weise wieder Folkmusik.

Lothar Hempel: Es gibt aber bei uns auch eine ganze Menge tatsächlich natürlich und analog gespielter Instrumente, die von richtigen Menschen live eingespielt wurden. Aber du hast schon recht, als wir das Album gemacht haben, hatten wir immer eine Sound-Vorstellung von einer spröden und herben Einfachheit in komplexen Zusammenhängen. Das ist zur Obsession geworden. Da gab es eine richtige Sehnsucht nach einem bestimmten kühlen und unmöglichen Sound, eine fixe Idee, die uns nicht mehr losließ. Es gab irgendwann einmal den Satz, ich weiß gar nicht mehr, von wem er stammt: „künstliche Intelligenz in antiken Ruinen“. Das umschreibt die Idee der Spannung und Anziehung zwischen zwei unmöglichen Polen ganz gut, trifft sie aber immer noch nicht ganz genau. In einigen Momenten der Platte habe ich das Gefühl, wir konnten diese Idee umsetzen. Manchmal flackert etwas auf! Manchmal ist da was! Das erinnert dann wieder an das, was man eigentlich machen wollte! Das ist dann schön. Schönheit des Unmöglichen. Oder unmögliche Schönheit (lacht).

Emma Stern: Euer Bandname Nessuno, das hat irgendetwas mit der Odyssee zu tun, nicht wahr? Oder mit italienischen Filmen. Und der Plattentitel ist „Songs for the blind“, woher kommt das eigentlich und was bedeutet das? Und dann gibt es viele crazy Songtitel, wie zum Beispiel „Das Mädchen Nirgendwo“ oder „Inselkinder Exodus“. Das alles klingt sehr geheimnisvoll und voller Bezüge und Referenzen, die man nicht versteht und mit denen man sich ein wenig allein gelassen fühlt. Ist das eine Art individuelle Mythologie? Woher kommen denn diese Worte?

Lothar Hempel: Diese Worte, diese Fragmente, diese Überbleibsel, klar, das kommt alles natürlich auch aus unserem Leben. Das ist das Private, das Subjektive, die Erinnerung, die Spur des Ich das sich da verdichtet und fast schon mythologisch wirkt. Das muss man nicht verstehen und das muss man auch nicht erklären. Das soll man benutzen, gebrauchen! Diese Worte, die wurden erfunden, erinnert, die werden umgeformt, neugemacht und dann zurück in einen Kreislauf gebracht, zum Beispiel jetzt hier, auf dieser Platte. Das soll wirken und funkeln und lebendig sein. Daraus entsteht dann eine Bilder und Wortwelt, die ihre eigene Logik hat. Ich hab mich doch mein Leben lang bei anderen bedient, weil ich es brauchte. Und jetzt biete ich mich selber an, zum Gebrauch! Und dann gibt es aber auch die Songtexte, wie „Großstadttiere” zum Beispiel, die etwas geschlossenes haben, die fast wie eine Fabel funktionieren und eine Geschichte erzählen, mit Anfang und Ende, ganz klassisch. Diese sollen ganz klar und verständlich sein, schon überdeutlich, wie im politischen Theater.

Emma Stern: Es machen also ein Mann und eine Frau aus Berlin zusammen Musik und singen deutsche Texte, in allen Liedern geht es um Liebe und Beziehungen und Drama. Und doch hat das ganze etwas merkwürdig stilisiertes, ja fast körperloses, wirkt wie ein Schattenspiel. Dann wird es aber auch wieder hyperreal, greift richtig nach einem, hält einen fest und zwingt zur Stellungsnahme. Wenn man das so beschreibt und hört, klingt das fürchterlich anstrengend und abgehoben und man möchte eigentlich schreiend weglaufen! Aber euer Projekt ist doch ganz anders, nämlich entwaffnend und einfach und offen und vor allem auch richtig unterhaltsam! Und es hat auch eine befreiende Dimension. Seltsam...

Lothar Hempel: Das klingt natürlich toll, was Du sagst. Wir haben uns tatsächlich oft vorgestellt, daß wir zu Figuren in einem japanischen Puppenspiel werden wollen, also Teil der eigenen Fiktion werden. Diese Vorstellung hat uns geholfen, uns ein wenig von uns selbst zu befreien, um noch einfacher und klarer und ehrlicher zu werden. Wir sind mit dieser Platte wirklich sehr zufrieden und glücklich, aber wir sind auch schon wieder ungeduldig und möchten eigentlich direkt die nächste Platte beginnen. Auch um das zu erweitern und zu vertiefen, was wir jetzt mit diesem ersten statement schon gesetzt hat. Um darauf aufzubauen und weiter zu gehen. Weiter! Es gibt noch so viele Ideen und so viele Möglichkeiten. Das ist jetzt ja nur ein Anfang.

Emma Stern: Es gibt noch etwas, was ich gerne sagen will. In dem Song Nebelmenschen, in dem du einen langen Text, eine Art Gedicht sprichst, gibt es eine Stelle in der es heißt:

Es ist so leicht zu lügen
so schlau und frei die Zunge
Begrab mein Herz im Schatten
den du zu Boden wirfst

Ich finde in diesen 4 schlichten Zeilen ist alles drin, was euer Projekt ausmacht, Leichtigkeit, Schlauheit und Freiheit und dann das Pathos, die Tragik und das Wortspiel, das alles wieder auflöst, so daß man sich fragen muß, wie ist das alles jetzt eigentlich gemeint. Lothar, ich sehe eure Platte kritisch, aber ich finde sie auch sehr gut!

Lothar Hempel: Vielen Dank, Emma!

 

* Emma Stern ist geboren in London. Sie lebt jetzt in Nizza. Sie betrieb in den frühen 0er Jahren eine Buchhandlung und Kino namens HAIL in der Lower East Side in New York. Sie ist freie Autorin und dokumentarische Filmemacherin.

 

Credits
Text: Emma Stern
Bild: Marc Comes